Philosophie der Zwischenräume
Was ist Musik? Worin sah Vladimir Jankélévitch ihr Unaussprechliches? Und wie dachte Ludwig Wittgenstein über Harmonik nach? Drei Bücher suchen nach einer Sprache für schwer fassbare Phänomene.
Es scheint kein Zufall zu sein, dass sich die berühmte Antwort von Augustinus auf die Frage nach einer Definition von Zeit – fragt mich niemand, weiß ich es, soll ich es erklären, weiß ich es nicht – auch auf eine philosophische Definition von Musik anwenden lässt, denn die Musik, so hatte es bereits Henri Bergson festgestellt, vermittelt uns in ihrem Dahinfließen ein Bewusstsein für die „Dauer“ der parallel zu ihr vergehenden Zeit. Anderthalb Jahrhunderte sind seit Bergsons Erkenntnis vergangen und immer noch ist die Musikphilosophie als selbstständiges Forschungsgebiet ein vergleichsweise junger Zweig ästhetischer Betrachtung.
So geht es den beiden Herausgebern des Bandes Perspektiven der Musikphilosophie, Wolfgang Fuhrmann und Claus-Steffen Mahnkopf, die als Professoren am einzigen Lehrstuhl für Musikphilosophie in Deutschland, dem der Universität Leipzig, tätig sind, vor allem darum, die Grundlagen ihres Faches zu bestimmen. Mit ihrer Aufsatzsammlung vermitteln sie einen klar strukturierten und kritischen Überblick über die Entwicklung der deutschen Musikphilosophie, angefangen mit Theodor W. Adornos Arbeiten aus der Nachkriegszeit bis in die aktuelle Gegenwart. „Warum überhaupt über Musik schreiben?“, lautet dabei die grundlegende Frage. Wenn Musikphilosophie, wie etwa Matthias Vogel annimmt, der Versuch ist, „mit philosophischen Mitteln über Musik nachzudenken“, so taucht beinahe unmittelbar eine metaphilosophische Debatte am Horizont auf: Gefordert ist eine Verständigung über Musik und Sprache, aber auch über die Voraussetzungen musikalischen Verstehens.
Cosima Linke untersucht in diesem Zusammenhang den Einfluss von Roland Barthes auf die Musikphilosophie Albrecht Wellmers und zitiert die Befürchtung Barthes’, dass eine Musikanalyse Gefahr laufe, „am Körper vorbeizuzielen“ oder sogar „den Körper zunichte zu machen“. Sie sieht Barthes damit in der Tradition von Vladimir Jankélévitch (1903–1985), Schüler Bergsons und Philosoph der Zwischenräume, des Beinahe-Nichts und all jener Zustände, die sich nur schwer begrifflich fassen lassen. Für ihn war die Musik, der er ein gutes Dutzend Arbeiten widmete, das künstlerische Ebenbild des philosophischen Denkens, da sich beide innerhalb der Zeit entfalten.
Jankélévitch hat sich vor allem mit den französischen Komponisten der Jahrhundertwende, Fauré, Debussy, Ravel, Satie, immer wieder auseinandergesetzt, so auch in seinem Werk Die Musik und das Unaussprechliche. Dieser Klassiker wurde 1961 in Frankreich veröffentlicht, mehr als 50 Jahre später ins Deutsche übersetzt und ist jetzt in einer Taschenbuchausgabe erschienen. Jankélévitch beginnt bei einer Reihe von Widersprüchen, die sich für ihn in der Musik verkörpern, da sie gleichzeitig „oberflächlich und tiefgründig, ernsthaft und leichtfertig“ zu sein vermag. In seiner Beschäftigung mit solchen Paradoxien findet er einen ganz eigenen Ton, indem er die Musik nicht nur im Raum, sondern in unterschiedlichen Gefühlen wie dem Groll, der Gleichgültigkeit oder der Unbeständigkeit lokalisiert. Dabei stößt er nahezu zwangsläufig auf die Widersprüche innerhalb der philosophischen Beschäftigung mit Musik, die er mit der Poesie und der Liebe, „ja, selbst mit der Pflicht“ vergleicht. Die Musik, hält er einmal fest, ist „nicht dafür geschaffen, dass man etwas von ihr sagt, sondern dass man sie ‚spielt‘“.
Da ist sie wieder, die scheinbar unüberbrückbare Dichotomie von Musik und Sprache, von Form und Inhalt, die fast zwangsläufig zu dem Philosophen führt, der wie kein zweiter die Grenzen des Sagbaren ausgelotet hat: Ludwig Wittgenstein. Bietet uns Jankélévitch französische Reflexion und Metaphorik, so können wir von Wittgenstein das unbeirrte Nachfragen lernen. Der Komponist Walter Zimmermann hat unter dem unauffälligen Titel Ludwig Wittgenstein. Betrachtungen zur Musik ein einmaliges Kompendium zusammengestellt, das auf Grundlage des Wittgenstein-Archivs der Universität Bergen tatsächlich alles versammelt, was Wittgenstein direkt oder indirekt zur Musik notiert hat. Dabei reichte Zimmermann allein die Nennung eines musikalischen Begriffs aus, um die Notiz, unabhängig vom jeweiligen Kontext, in seine alphabetische Gliederung einzufügen, die von Formtypen wie der Fuge oder der Symphonie über Harmonik, einzelne Instrumente und das Werk eines Dutzend Komponisten bis hin zu allgemeinen Begriffen wie Noten, Tönen oder Phrasen reicht.
Wie intensiv Wittgenstein über die Musik nachdachte und wie wichtig ihm die Erstellung einer Terminologie war, lässt sich an den im Text typografisch sichtbar gemachten Streichungen, Unterstrichelungen oder Unterpunktungen erkennen. So verwarf er zum Beispiel in einem Gedanken sowohl das Thema als auch die Melodie, um schließlich ganz allgemein von der Musik zu sprechen, die „weder eine Empfindung, noch eine Summe von Empfindungen“ sei. Am nächsten aber kommt Wittgenstein der Musikphilosophie in vier notierten Takten, zu denen er schreibt: „Das wäre das Ende eines Themas, das ich nicht weiß. Es fiel mir heute ein als ich über meine Arbeit in der Philosophie nachdachte + mir vorsagte: ‚I destroy, I destroy, I destroy –‘.“ •
Wolfgang Fuhrmann, Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.)
Perspektiven der Musikphilosophie
Suhrkamp, 369 S., 24 €
Vladimir Jankélévitch
Die Musik und das Unaussprechliche
Übers. v. Ulrich Kunzmann
Suhrkamp, 268 S., 20 €
Ludwig Wittgenstein
Betrachtungen zur Musik
Hg. v. Walter Zimmermann
Suhrkamp, 253 S., 25 €