Rechte Metapolitik
Rechtsextreme streben nach kultureller Hegemonie – auch über die Universitäten. Dabei können sie an so einflussreiche Denker wie Martin Heidegger und Reinhart Koselleck anschließen, die ihre wahren Absichten geschickt zu verbergen wussten.
Der marxistische Philosoph und Mitbegründer des Partito Comunista Italiano, Antonio Gramsci, wurde im Juni 1928 von der faschistischen Justiz Mussolinis zu zwanzig Jahren Kerker verurteilt. In seinen berühmten Gefängnisheften setzte er sich mit der Frage nach den Bedingungen erfolgreicher Eroberung politischer Macht und ihrer Erhaltung auseinander. Er kam zu dem Schluss, dass militärische Gewalt alleine nicht genüge, um Macht zu gewinnen und langfristig zu erhalten, sondern es darum gehen müsse, breite Zustimmung zu erlangen. Dieses Konzept einer „intellektuellen und moralischen Führung“ nannte er „kulturelle Hegemonie“.
Anknüpfend an Gramsci propagiert heute der rechtsextreme Stratege Martin Sellner einen „Staffellauf der metapolitischen Pionierarbeit“, da die Eroberung der Macht weder aus den Gewehrläufen komme noch in den Parlamenten erfolge, sondern auf kultureller Hegemonie beruhe: „Wir sind alle rechte Gramscianer bis zu einem gewissen Grad in unserer Konzeption von Macht.“ Es handelt sich dabei um eine Aneignung von rechts, die das Denken des Gegners aushöhlt, indem sie dessen Methode nur der Form nach gelten lässt und dessen emanzipatorische Prämissen über Bord wirft.
Die Universitäten erobern
Vor zwei Jahren erklärte Sellner, es gehe darum, sich vor allem innerhalb der Geisteswissenschaften durchzusetzen: Die „Quelle der Beherrschung der Diskurse“ liege in den Universitäten. Er fügte hinzu: „Sich die Universität anzueignen läuft darauf hinaus, sich die Geisteswissenschaften anzueignen.“ Wie sich diese schleichende Eroberung seit den frühen 1950er Jahren vollzogen hat und bis heute vollzieht, soll im Folgenden an den Beispielen des als Philosoph geltenden Martin Heidegger und des Historikers Reinhart Koselleck veranschaulicht werden.
Bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ hatten rechtsradikale Vordenker in Deutschland begonnen, kulturhegemoniale Strategien zu verfolgen. Aus diesen Kreisen plädierte der französische Denker Alain de Benoist seit den 1960er Jahren dafür, die „Infrastruktur“ der Kultur mit „intellektuellen Mitteln“ zu erobern. Die Wirksamkeit dieser von Rechtsradikalen auch als Metapolitik bezeichneten Strategien lässt sich daran ablesen, dass viele Intellektuelle, deren Handwerk kritisches Denken sein sollte, nicht erkennen, wie diese seit Jahrzehnten die Grundlagen des wissenschaftlichen wie des politischen Dialogs und damit auch Fundamente der repräsentativen Demokratie beschädigen.
Symptomatisch für diese langanhaltende Verkennung ist die Tatsache, dass erst die 2014 veröffentlichten, explizit antisemitischen Aussagen in Heideggers Schwarzen Heften zahlreiche renommierte Philosophen dazu veranlassten, Heideggers Denken grundsätzlich zu hinterfragen. Seit 2014 ist etwa folgende Passage in Band 96 von Heideggers ‚philosophischen‘ Werken veröffentlicht: „Das Weltjudentum, aufgestachelt durch die aus Deutschland hinausgelassenen Emigranten, ist überall unfaßbar und braucht sich bei aller Machtentfaltung nirgends an kriegerischen Handlungen zu beteiligen, wogegen uns nur bleibt, das beste Blut der Besten des eigenen Volkes zu opfern.“ Seit 2022 ist im Band 91 unter dem Titel Metapolitik als ‚Logik‘ nachzulesen, dass fortan nicht mehr zu fragen sei: „Wer ist der Mensch?“, denn das entspricht, Heidegger zufolge, einer blutlos abstrakten Auffassung von Logik im Sinne von Denkgesetzen. Es gelte, die Logik völkisch zu fassen und zu fragen: „wer sind wir?“
Heidegger als „Täuschungskünstler“
Es hätte lange vor 2014 klar sein müssen, dass Heidegger, der vom Prestige der Philosophie zehrt, diese zu überwinden trachtet und kritisches Denken systematisch demontiert. Seit Jahrzehnten ist bekannt, was Heidegger ab 1929 – als er Edmund Husserls Lehrstuhl in Freiburg übernahm – unterrichtete: Der „philosophische Begriff“ sei „ein Angriff […] auf den Menschen.“ Seit über siebzig Jahren lässt sich in den Holzwegen, die nach vier Jahren Lehrverbot 1950 Heideggers Comeback einläuteten, nachlesen: „Das Denken beginnt erst dann, wenn wir erfahren haben, daß die seit Jahrhunderten verherrlichte Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens ist.“
Klare Begriffe und Widerlegung, Argumente, Logik und Vernunft seien also, so verkündet es Heidegger, Hindernisse des Denkens. Aber handelt es sich dabei nicht um unabdingbare Voraussetzungen des Philosophierens? Weshalb wurde der Widerspruch nicht gesehen, der darin besteht, dass Heidegger die Grundlagen des philosophischen Dialogs ablehnt und zugleich als philosophischer Klassiker gilt? Offenbar ist die Tatsache, dass sein Denken Teil des philosophischen Kanons ist, vielen Gewähr genug für dessen vermeintliche Tiefe – als wäre die Aufnahme in den Kanon immer im Wesentlichen das Ergebnis denkerischer Fähigkeit und Leistung.
Erst in den letzten Jahren wurde deutlich, dass sich Heideggers Kanonisierung in erheblichem Maße nicht-wissenschaftlichen Legitimationsfaktoren, Strategien und Taktiken, insbesondere der vorsätzlichen Täuschung, verdankt. Eine maßgebliche Rolle spielte dabei seine gezielt indirekte Ausdrucksweise, die sich politisch-rhetorischer Techniken wie des dog-whistlings – d. h. der verdeckten Sprache – und der plausible deniability – d. h. der Rechenschaftsvermeidung – bedient. Es liegt in der Verantwortung von Wissenschaftlern und Intellektuellen zu zeigen, dass er ein „Täuschungskünstler“ (Plato) ist und deshalb auch kein ernstzunehmender Gesprächspartner der öffentlichen Debatte sein kann – die Heidegger, wie alle, die rechtsextremen Ansichten folgen, verachtet: „Die Öffentlichkeit verdunkelt alles“. Heideggers Wirkungsgeschichte ist ein Paradebeispiel für Irreführung und für die Zerstörung kritischen Denkens auch und gerade unter Intellektuellen.
Gewaltsame Neubesetzung von Begriffen
„Wir Rechten“, so formuliert es heute Björn Höckes geistige Souffleuse Götz Kubitschek, „stürmen Sprach- und Denkblockaden“ und dadurch wird „das Unsagbare sagbar“. „Begriffe, Ideen und Narrative“ müssten „gezielt besetzt und umgedeutet werden“, so formuliert es der Neonazi Mario Müller. Gerd-Klaus Kaltenbrunner, rechtsradikaler Vordenker, formulierte das in den 1960er Jahren so: „Wer heute die Begriffe besetzt, übt morgen die Macht aus.“ Begriffsbesetzung und -umdeutung, Umkehr der Werte, Unterwanderung der Grundlagen kritischen Denkens – das sind wesentliche Aspekte rechtsradikaler metapolitischer Strategie zur Durchsetzung von Deutungshoheit im öffentlichen Raum.
Verkannt wird bislang, dass sich lange Zeit auch der Historiker Reinhart Koselleck einer ähnlichen Umwertung der Werte durch gewaltsame Neubesetzung von Begriffen verschrieb. 1973 legte er seine Doktorarbeit Kritik und Krise beim renommierten, in der Tradition der Aufklärung stehenden Suhrkamp-Verlag neu auf. 1979 erschien im selben Verlag eine Aufsatzsammlung mit dem Titel Vergangene Zukunft. Mit diesen beiden Veröffentlichungen gelang es ihm, eine immense Reputation zu erlangen, die weit über seine Disziplin, die Geschichtswissenschaften, hinausging.
In Kritik und Krise übernimmt Koselleck einen zentralen Gedanken des ‚Kronjuristen des Dritten Reiches‘, Carl Schmitt, dass nämlich die Aufklärung die Epoche der geheimen und Chaos stiftenden Machenschaften der „kosmopolitischen Freimaurer“ sei. Im Jahrhundert der Aufklärung sei die Staatlichkeit auf Grund dieser Strippenzieher zersetzt worden. Die Waffe der freimaurerischen Verschwörer und Chaosstifter sei die ‚Geschichtsphilosophie‘, d. h. der Glaube an Fortschritt und Planbarkeit der Geschichte. In Kosellecks Augen ist die Französische Revolution kein Fortschritt, sondern eine unheilvolle Etappe in einem gezielt herbeigeführten und sich globalisierenden Bürgerkrieg.
Metapolitischer Coup – Koselleck
In Kritik und Krise bezichtigt Koselleck zudem die Aufklärer, eine „Inversionslogik“ zu praktizieren, um gleichzeitig davon abzulenken, dass er sich selbst einer solchen Strategie gewaltsamer Umkehr bedient. Diese besteht darin, dass Koselleck den totalitären Terror nicht etwa der Gegenaufklärung, wie sie unter anderem Joseph de Maistre, Edmund Burke, Houston Stewart Chamberlain und Friedrich Nietzsche propagierten, sondern der Aufklärung selbst zuschreibt. Kein einziges Wort verliert Koselleck in Kritik und Krise über die Verbrechen des Nationalsozialismus, die sich gegen alle Errungenschaften der Aufklärung richteten. Stattdessen denunziert er ebendiesen Geist der Aufklärung.
Parallel dazu beteiligte er sich daran, Carl Schmitts Ideologie des Krieges und der existenziellen Feindschaft wissenschaftliche Weihen zu verleihen, indem er die Aufsatzsammlung Vergangene Zukunft mit zwei Schmitt-Huldigungen eröffnete. Dazu zählte erstens der Vortrag, den er, im Jahre 1968, im Rahmen der sogenannten Ebracher Seminare gehalten hatte, die vom ebenfalls dem Nationalsozialismus nahestehenden Staatsrechtler Ernst Forsthoff ins Leben gerufen worden waren. Diese Seminare organisierte Forsthoff nicht zuletzt mit dem Zweck, dem auf Grund seiner ideologischen Unterstützung des NS-Regimes geächteten Carl Schmitt wieder zu Gehör und Wirkung zu verhelfen. Sie waren eine rechtsradikale Gegenakademie.
Zweitens war da der Text, den Koselleck im selben Jahr der Carl-Schmitt-Festschrift beigab. Schließlich trug Koselleck maßgeblich dazu bei, Schmitts Ideologie wissenschaftlich zu überhöhen. So verkündete er in Vergangene Zukunft, es sei Schmitts „wissenschaftliche Leistung“ gewesen, mit seiner Freund-Feind-Unterscheidung eine „Erkenntniskategorie“ zur Verfügung gestellt zu haben, die es ermögliche, den aufklärerischen Begriff der ‚Menschheit‘ als das zu durchschauen, was er im Kern sei: eine moralisch verbrämte „Manipulation“, im Kern eine „totalitäre Sprachfigur“. Koselleck wusste, dass Schmitts kriegerische Unterscheidung keine Erkenntniskategorie ist, sondern ein Kampfbegriff. Er wusste, dass diese Unterscheidung bei Schmitt ihren „realen Sinn“ dadurch erhält, dass sie „auf die reale Möglichkeit der physischen Tötung Bezug“ hat. Dass es Koselleck gelang, sich mit seinen gewaltsamen, aufklärungsfeindlichen und irreführenden Begriffsumbesetzungen als Suhrkamp-Autor zu etablieren und dabei sogar als ‚Aufklärer der Aufklärung‘ und Humanist tituliert zu werden, ist ein metapolitischer Coup sondergleichen.
Lob der Anpassungsfähigkeit
Das Bild Kosellecks als ‚Aufklärer potenzierten Grades‘ ist eine von Carl Schmitt höchstpersönlich in die Welt gesetzte Legende, die ebenso haltlos ist wie die Legende eines Koselleck, der sich in den 1970er Jahren liberalisiert und sich dabei von Schmitt und Heidegger distanziert habe. 1985 erklärte Koselleck in einem Vortrag zu Ehren Hans-Georg Gadamers, aus Heideggers „Grundbestimmungen der Endlichkeit und Geschichtlichkeit“ die „Bedingungen möglicher Geschichten ableiten“ zu wollen. Eine fundamentale „transzendentale Kategorie“ – also eine Erkenntnisfunktion, die vor aller empirischen Erfahrung besteht – sei hierbei das „Totschlagenkönnen“. Dieses sei eine ebenso elementare Voraussetzung historischer Anthropologie, so Koselleck weiter, wie die Opposition von Freund und Feind. Koselleck beteiligte sich also noch in den 1980er Jahren daran, einer Weltanschauung der Diskriminierung und des Kampfes den Schein einer Erkenntnistheorie im Sinne Kants zu verleihen.
Kosellecks metapolitisches Geschick ermöglicht es heute den rechtsradikalen Vordenkern der AfD, sich auf ihn zu beziehen, wenn sie wider alle Wissenschaftlichkeit behaupten: „Für jeden, der sich auch nur ein bißchen mit der Historie beschäftigt hat, dürfte klar sein, daß der Geist der Verschwörung in ihr geradezu allgegenwärtig ist […] Die Französische Revolution und das Ende des Absolutismus wären ohne die konspirative Maulwurfsarbeit der Freimaurerei undenkbar gewesen.”
Heidegger und Koselleck sind fester Bestandteil des rechtsradikalen Lektürerepertoires. In einem 2010 in der neurechten Zeitung Junge Freiheit publizierten Beitrag evozierte Karlheinz Weißmann – ein Schüler des rechtsextremen Vordenkers Armin Mohler – den „Zwang“, der darin bestehe, „sich in bestimmten Fragen bedeckt zu halten, so daß die eigentliche Auffassung nur ‚per exclusionem‘ […] faßbar wird, durch Wahrnehmung dessen, was man nicht sagt. Das Buch Krise und Kritik (1959) [sic] des Historikers Koselleck […] kann man als Extrembeispiel für dieses Verfahren ansehen“. Ein Jahr später lobte Weißmann Koselleck für seine Anpassungsfähigkeit an den Feind, für seine Fähigkeit, „in den siebziger und achtziger Jahren stets, bei der intellektuellen Linken den Eindruck zu erwecken, daß er dazugehöre“.
Winke, Feldzeichen und Worte als Waffen
Ähnlich wie Heidegger, den Koselleck zeitlebens bewunderte, ist es auch ihm selbst gelungen, in das Pantheon der großen Denker aufgenommen zu werden und dabei zwischen den Zeilen gekonnt rechtsradikales Gedankengut zu fördern. Symptomatisch für diese Fähigkeit, auf zwei Ebenen zu kommunizieren, war bereits vor über vierzig Jahren die Tatsache, dass es Koselleck ohne Weiteres gelang, seine Teilnahme an der im Jahre 1976 von Mohler in München organisierten rechtsradikalen Sondervortragsreihe Zur Grenze der Machbarkeit. Wo gibt es noch Schicksal? zu ‚normalisieren‘, indem er seinen dort gehaltenen Vortrag drei Jahre später in Vergangene Zukunft kommentarlos abdrucken ließ.
Ebenso widerspruchslos druckte Suhrkamp den bereits erwähnten Vortrag, den Koselleck 1968 in Ebrach zu Ehren Schmitts gehalten hatte. Der Vortrag endet mit folgenden Andeutungen: „Wir leben seit 1945 zwischen latenten und offenen Bürgerkriegen. […] Aber die Begriffsgeschichte, auch wenn sie sich in Ideologien einläßt, wird uns daran erinnern, daß Worte und ihr Gebrauch für die Politik wichtiger sind als alle anderen Waffen.“ Heidegger würde hier von „Winken“ sprechen, Ernst Jünger und Arnold Gehlen von „Feldzeichen“. Koselleck war mit den kulturhegemonialen Überlegungen zu Worten als Waffen vertraut, die Carl Schmitt einmal so artikulierte: Der Kampf um Begriffe sei kein Streit um leere Worte, sondern „ein Krieg von ungeheurer Wirklichkeit und Gegenwart“. Dass Begriffe in erster Linie nicht Werkzeuge des Denkens und der Erkenntnis, sondern Waffen im Dienste weltanschaulicher und politischer Deutungskämpfe seien, und es deshalb gelte, diese neu zu besetzen, führt Koselleck vor, indem er den Begriff der „Menschheit“ als Quelle unmenschlichen Terrors brandmarkt.
Wesentlicher Bestandteil kulturhegemonialer Deutungskämpfe von rechts ist die Verzerrung der Ansichten des Feindes. Es gilt, ihn zu diskreditieren, anstatt seinen geistigen Positionen durch möglichst genaues Erfassen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. So ist die Behauptung Kosellecks in Kritik und Krise, die Zeit der Aufklärung sei beherrscht von einem „Zwang zur dualistischen Aufspaltung“ eine krude Karikatur, die verkennt, dass zwei für die Aufklärung so wichtige Werke wie Rameaus Neffe von Diderot und die Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen von Rousseau Paradebeispiele dialektischen Denkens sind, d. h. Werke, die sich bemühen, die Dinge und die Begriffe, die die Menschen sich davon machen, in der Komplexität ihrer Wechselwirkungen, in ihrem Entstehen, in ihrer Verbindung und ihrem Vergehen zu begreifen. Koselleck geht es nicht um Verstehen und Verständigung vermittelst sachlicher Interpretation. Es geht ihm um Diskursmacht und Deutungshoheit in einer Situation, die er als „Weltbürgerkrieg“ begreift.
Erst unterschieben, dann zuschlagen?
Koselleck, darin ein guter Schüler der „konservativen Revolution“, bediente sich diverser kulturhegemonialer Strategien. Dazu gehören seine publizistischen Strategien und auch die Verwendung einer indirekten Ausdrucksweise, die eigene Positionen verunklart, um möglichst unangreifbar zu sein: In dem Brief, den er zum Jahreswechsel 1953/54 an Carl Schmitt schrieb, ging er auf dessen „Einwand“ ein, „daß ich zuviel ausgesprochen habe und zu unvorsichtig war in der Niederschrift“ der Doktorarbeit. Er habe, so räumte er ein, „noch etwas von jener unreifen Penetranz“ an sich, „die sagen zu müssen glaubt, was sie weiß“. Folglich gilt es, so legt es der Brief nahe, sich in Zukunft vorsichtiger auszudrücken.
Den rechtsradikalen Weltanschauungskämpfern zufolge besteht kluges realpolitisches Verhalten im vorpolitischen Raum im „schwierigen und langwierigen Herüberziehen der für Mehrheiten unabdingbaren Mitte […] Auf dem mühsamen Weg dorthin [zur Macht] muß die mögliche Mehrheit an Vokabeln, Argumente, Grundlagen, Wertungen und Tabus gewöhnt werden, deren sie jahrzehntelang entwöhnt wurde. Die Neudeutung und Rekonstruktion der kaputten Begriffe und falschen Schlußfolgerungen muß dabei wie ein langsames Unterschieben organisiert werden“, so eine Formulierung, die sich in der rechtsextremistischen Zeitschrift Sezession nachlesen lässt.
Geduldiges, unmerkliches ‚Unterschieben‘ statt öffentlicher Diskussion, denn diese hat in den Augen rechtsradikaler Strategen keinerlei Legitimität. Diese sehen das große Verdienst des erzreaktionären Juan Donoso Cortés darin, „die Problematik der bürgerlichen Diskussion in ihrem letzten Kern erkannt, […] und dem Versuch, einen Staat auf Diskussion aufzubauen, mit großer Kraft den Gedanken der Dezision [entgegengestellt]“ (Carl Schmitt) zu haben. Die Praxis des Unterschiebens und der Suggestion ist einer Weltanschauung gemäß, derzufolge die Massen lernen müssen, „die Theorien überhaupt zu verachten, und der Stimme des Herzens mehr zu vertrauen als der des Verstandes“ (Ernst Jünger). Oder – je nach Situation und Taktik – auch der Stimme der Faust. 2007 schrieb Kubitschek, die „Mittel“ des Gesprächs und der Debatten seien „aufgebraucht, und von der Ernsthaftigkeit unseres Tuns wird Euch kein Wort überzeugen, sondern bloß ein Schlag ins Gesicht“.
Täuschungsmanöver erkennen
Der Taktik der Camouflage bediene man sich, so die rechtsradikalen Beteuerungen bis heute, wider Willen, denn im Grunde schätze man den ehrlichen Kampf mit offenem Visier. Doch diese mannhafte Haltung gehe dem hinterhältigen Feind ab. Ja, der Universalismus der Vernunft gilt am rechtsradikalen Rand als besonders perfides Kriegsstrategem der Feinde. Und so komme es mitunter darauf an, diese mit ihren eigenen Waffen zu schlagen und sich den „Meinungswächtern“ chamäleonartig anzugleichen. Auf diese Weise müsse die „moralisierende Geschichtserzählung“ (Kubitschek), die gegenwärtig die wirkmächtigste ideologische Waffe der vermeintlichen Meinungswächter darstelle, bekämpft werden. „In Deutschland“, verkündete derselbe rechtsextreme Propagandist kürzlich, „tobt ein geistiger Bürgerkrieg. Es geht um die Vorherrschaft auf medialem, sprach- und geschichtspolitischem Feld, um Deutungshoheit, um den Markenkern einer großen Nation. Die Heftigkeit der Abwehr gegen Neudeutungsvorstöße von rechts erlaubt die Bezeichnung Krieg. […] Also: lasst uns Krieg führen!“
Die rechtsradikalen Diskursstragien von damals und heute sollten uns eindringlich daran erinnern, dass wissenschaftliche Verständigung ebenso wie die demokratische Debattenkultur von einem Mindestmaß an Offenheit und Ehrlichkeit lebt. Es geht darum, zu verdeutlichen, dass es Aufgabe von Wissenschaftlern und Intellektuellen sein sollte, die diskursiven Voraussetzungen der Demokratie zu verteidigen, indem sie Täuschungsmanöver als solche benennen und zeigen, dass diejenigen, die in der Vernunft die hartnäckigste Widersacherin des Denkens sehen, wie Jean-Paul Sartre es mit Blick auf den idealtypischen Antisemiten beschrieb, „genußvoll unaufrichtig“ sind, „denn ihnen geht es nicht darum, durch gute Argumente zu überzeugen, sondern einzuschüchtern oder irrezuleiten”. •
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Kommentare
Den Imperativ der Vernunft mit dem Imperativ der geistigen Zäsur ersetzen, so könnte man das zusammenfassend übersetzen.
Andererseits erfreuen sich Akronyme zunehmender Beliebtheit, die Begrifflichkeiten verkürzen, um nicht zu sagen verschleiern, für welche man früher ganze Zeilen von Sätzen benötigte, um diese verständlich erscheinen zu lassen.
Meta, mega u. dgl. (for exemples) als gängige Vorsilben, können, selbst für Begriffsstutzige, allgemein verständlich benutzt werden. Dem Pluralismus und Fremdsprachenkenntnissen sei Dank.
Zäsur, reimt sich zufällig auf Cäsar, schreibt Wikipedia, wär nichts anderes als wie ein Schnitt; in Raum und Zeit wär dann persönliche Interpretationssache. Der Fantasie sind ja angeblich keine Grenzen gesetzt.
Heidegger hatte eine schwierige Biografie und war politisch verirrt. So weit, so gut. Aber, Heidegger ein vom Verfolgungswahn geplagter Verschwörungstheoretiker? Ein rechter Ideologe und Umstürzler bis zum Ende seines Lebens? Seine Philosophie eine einziges, gut getarntes (?) rechtsradikales Programm, umzusetzen mit hegemonialer Praxis? Das alles halte ich für abenteuerlich. Es ist wahrscheinlich umgekehrt: mit dem Nationalsozialismus wollte Heidegger seine Philosophie auf den Sockel heben - und er hat damit seine ganze politische (und menschliche) Inkompetenz bewiesen.
Mit der Biografie das Werk zu diskreditierten, das halte ich kategorial für falsch. Zudem: Nicht jede Philosophie ist politisch motiviert. Aber es gehört wohl zu einer postmodernen Philosophie, alle Beiträge als Machtspiele aufzufassen und Sprache somit immer nur als bloß performative Rhetorik zu betrachten. Die Autorin vollzieht mit der Mischung aus Andeutungen, Empörung, unsauberen Schlüssen, queren Bezügen zu falschen Zeugen und ständiger, unbeirrter Wiederholung dieser Plattitüden vielmehr selbst eine verschwörungsideologische Praxis. Das ganze gipfelt damit, den Kritisierten willkürlich mit anderen ausgemachten Gaunern in eine Ecke zu stellen… Das alles, den ganzen Text finde ich unlauter. Mir ist die philosophische Tradition lieber, die den Autor „sterben“ lässt, um sich an das Werk zu halten und dieses denkend zu befragen. Und diesbezüglich hat Heidegger viel bieten.