Zurück zur Wirklichkeit
In seiner Kolumne aus der aktuellen Ausgabe widmet sich Gert Scobel dem Buch Nichts tun von Jenny Odell. Darin führt die Autorin in die Kunst ein, die Zwänge der Aufmerksamkeitsökonomie hinter sich zu lassen.
Es ist schwer zu sagen, was genau ein Buch als „philosophisch“ qualifiziert, zumal, wenn es kein im technisch-akademischen Sinn „philosophisches Werk“ ist. Sein Thema? Wohl kaum, denn auch ein Buch über die Kunst des Wahrnehmens oder den Garten kann originär philosophisch sein. Hilfreicher ist der Hinweis, dass es aus der kritischen Arbeit des Selbstdenkens erwachsen sollte. Gegenwärtig scheint ein neuer Typ des philosophischen Buches zu entstehen: Es gedeiht zwischen den Genres und steht in der Tradition von Philosophen wie Arne Næss, David Abram oder Gary Snyder. Dieser neuartige Typ ist ebenso Sachbuch wie philosophischer, aber auch literarischer Text, arbeitet interdisziplinär und nimmt auch nichtwestliche Traditionen auf. Nichts tun ist so ein neues Buch. Statt bekannte Denkwege abzuschreiten, entwirft die Künstlerin Jenny Odell andere Perspektiven: Sie bezieht sich auf ihre eigene Existenz und die Realität ihrer Umgebung, analysiert aber auch den Überwachungskapitalismus und seine Folgen. Sie kennt die globalen Probleme unserer Gegenwart, ob Klimawandel, soziale Ungleichheit oder Rassismus.
Digital Detox und Ausloggen reicht nicht
Die zerstörerische Kraft der Aufmerksamkeitsökonomie dient als Leitmotiv ihrer Analyse. Systematische Informationsüberflutung, ständige Konnektivität oder eine dauerhaft belagerte Aufmerksamkeit überführen unser Leben vom Realen in etwas Virtuelles, weg von uns selbst. Dabei zerstört die digitale Ökonomie der Tech-Giganten unsere gemeinschaftlichen Räume. Grenzenlose Konnektivität führt zu einem Verlust des Selbst, das nun die Wirklichkeit paradoxerweise als von ihm getrennte Entität erlebt. Es gilt also, die Wirklichkeit aus ihren eindimensionalen Entstehungsgeschichten zu befreien und die angeblich klaren Kausalitäten in ihre tatsächliche Komplexität zurückzuführen. Zu Odells Strategien gehört es, erweiterte Kontexte zu suchen. Das bedeutet, „sich einzugestehen, dass man nicht die ganze Geschichte kennt. Kontext ist das, was zum Vorschein kommt, wenn man seine Aufmerksamkeit lange genug auf etwas richtet“. Leider verlieren wir gegenwärtig den Sinn für Kontexte und die realen Orte, an denen wir uns befinden. Unmittelbar sind in erster Linie die sozialen Medien, die uns jedoch in einer angstbeladenen Klick-Gegenwart festhalten. Das Nichts tun, das Odell in vielen Facetten beschreibt, ist ein Schritt, sich vom Bezugssystem der Aufmerksamkeitsökonomie zu lösen. Nicht nur, um wieder Zeit zum Nachdenken und zur Erfahrung von Orten zu haben, sondern auch, um gemeinsam mit anderen Neues in einem anderen Rahmen zu tun. Man entkommt den Tücken der Aufmerksamkeitsökonomie nicht allein durch Digital Detox und Ausloggen, das zeigt dieses Buch auf brillante Weise.•
Jenny Odell: Nichts tun. Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen.
Übers. v. Annabel Zettel, C. H. Beck, 296 S., 24 €
Gert Scobel ist Honorarprofessor für Philosophie an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und moderiert auf 3sat die Sendung „Scobel“. Seit 2011 ist er Kolumnist des Philosophie Magazins.
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