Anti-Liberale Untote
„Postliberalismus“: Das ist zugleich Propagandaparole der Trump-Regierung und zeitdiagnostischer Modebegriff. Dem ideenhistorischen Blick erschließt sich hinter dem Anspruch ideologischer Innovation schnell ein Recycling-Projekt anti-liberaler Traditionsbestände. Sie verweisen auf fortbestehende Widersprüche der liberalen Moderne.
Die ideologische Landkarte der Moderne ist gut kartographiert. Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus, Faschismus dienen seit über hundert Jahren schon als Signifikanten der vier Himmelsrichtungen, an denen sich politische Selbst- und Fremdverortungen orientieren. Historischen Diskontinuitäten und regionalen Besonderheiten tragen Bindestrich-ismen Rechnung, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften munter aus dem Kraut schießen (Neo-Konservatismus, Paleo-Konservatismus, Theo-Konservatismus).
Mit dem „Postliberalismus“ ist in den 2010er-Jahren ein neuer Begriff in der politischen Theorie und Praxis aufgetaucht, der mit seinem zeitlichen Index („post“) den Anspruch erhebt, eine genuin neue Weltanschauung zu benennen. Politische Akteure in der ganzen transatlantischen Welt kaufen sich derzeit in dieses Versprechen ein: J. D. Vance nennt seine politische Programmatik „postliberal“, auch im Umkreis von Victor Orbans Fidesz-Partei kommt er propagandistisch zum Einsatz. Wer sich „postliberal“ nennt, behauptet, vermeintlich alte Gegensätze – wie Liberalismus versus Konservatismus versus Sozialismus – auf etwas historisch Neues hin zu überwinden. „Postliberalismus“ ist insofern auch ein geschichtsphilosophisch imprägnierter Begriff – obwohl ein Kernstück postliberaler Programmatik die Absage an die moderne (liberale) Geschichtsphilosophie ist. Aber zu diesen und anderen Widersprüchen gleich. Denn dem „Postliberalismus“ Selbstwidersprüche zuzuschreiben, setzt voraus, den Begriff diagnostisch zu verwenden. Taugt „Postliberalismus“ dafür?
Jenseits von rechts und links?
Antworten auf diese Frage zu finden, heißt, Diskontinuitäten und Kontinuitäten zu wägen, die sich sozialwissenschaftlich und ideengeschichtlich an den im Selbstverständnis „postliberalen“ Bewegungen beschreiben lassen: an den Republikanern unter der zweiten Trump-Administration, an Orbans Fidesz und vielleicht auch an Reform UK in Großbritannien. Aus der Perspektive der sozialwissenschaftlichen cleavage-Theorie lässt sich das Argument ableiten, dass sie alle historisch neue Konfliktlinien bewirtschaften, die in den transatlantischen Gesellschaften den alten Klassenkonflikt abgelöst haben, konkret: den Konflikt zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Gesellschaftsvorstellungen, zwischen dem Ideal der „offenen“ und der „geschlossenen“ Gesellschaft. Denn der Rhetorik der postliberalen Bewegungen zentral ist eine grundlegende Globalisierungskritik, die auf das Ideal einer kulturell homogenen, traditionalistisch-integrierten Gemeinschaft verweist. Als Gegner dieser Ordnung werden zwei Gruppen benannt: eine „woke“ Kulturelite einerseits und der finanzkapitalistische Jet-Set andererseits.
Aus diesen Feindbildern ist bisweilen abgeleitet worden, es handle sich bei dem Postliberalismus um eine neue Mischung aus gesellschaftspolitisch „rechten/konservativen“ und wirtschaftspolitisch „linken/sozialistischen“ policies. Genauer betrachtet, fehlt dem postliberalen Denken aber eine Politische Ökonomie, die linke (respektive: sozialistische) Positionen grundiert: Ökonomisch ungleiche Verhältnisse haben in der Perspektive der postliberalen Vordenker keine systemischen Ursachen, sondern wurzeln in einem Sittlichkeitsverlust, für den sie wiederum die Säkularisierung oder ihre vermeintlichen ideologischen Verstärker Liberalismus und Sozialismus verantwortlich machen. Hört man genauer hin, ist es nicht Ungleichheit als solche, an der Postliberale Anstoß nehmen, sondern die Zerstörung traditioneller Gemeinschaftsstrukturen durch die moderne Arbeitswelt und/oder Eigenlogiken des Ökonomischen.
In der ideenhistorischen Perspektive ist diese Verbindung einer Kritik an der „Ökonomisierung“ von Politik und Gesellschaft mit Liberalismuskritik durchaus nicht neu: Sie findet sich zum Teil wortgleich zur postliberalen Intonation im Kanon sowohl des restaurativ-traditionalistischen Konservatismus wie der sogenannten Konservativen Revolution, etwa bei Donoso Cortés und Carl Schmitt. Jeweils begegnet hier „das Ökonomische“ als Synonym für eine rein instrumentelle, im Bezug auf das Wahre-Gute-Schöne, auf überhistorische Wertgehalte also kupierte Vernunft – und darin als verlängerter Arm eines atheistischen, „rationalistischen“, moralisch „blutleeren“ Liberalismus. Als personale Verkörperung seiner vermeintlichen Zersetzungskraft ist seit dem 19. Jahrhundert immer wieder „das Jüdische“ identifiziert worden – und auch diese unheilvolle Traditionslinie findet im Postliberalismus ein immer lauter klingendes Echo.
Zwischen Restauration und Revolution
Überhaupt erschließen sich dem ideenhistorischen Blick mehr Kontinuitäten als Diskontinuitäten am Postliberalismus: Die Unterscheidungen, Antithesen und Narrative, die die postliberalen Texte prägen, wiederholen die Unterscheidungen, Antithesen und Narrative anti-liberaler Traditionsbestände der Moderne.
Vom monarchisch-klerikalen Denken der Restauration entleiht der Postliberalismus den Blick auf Aufklärung und Revolutionszeit: Statt als Emanzipations- und Aufbruchsgeschichte erzählt er sie als Verlustgeschichte: Als Geschichte der Entzweiung, Entfremdung und Entwurzelung einer vormals vermeintlich harmonisch hingeordneten Welt. Der Vorwurf der Restauration gegen Aufklärung und Revolution, mit der Trennung von Glaube und Vernunft, von geistlicher und politischer Autorität politisches Chaos und individuelle Orientierungslosigkeit gestiftet zu haben, macht der Postliberalismus zu einem zentralen Vorwurf gegen den Liberalismus. Er reaktiviert das politische und gesellschaftliche Ideal einer „im Befehlen und Gehorchen“ (Augustinus) hierarchisch geordneten Gemeinschaft, in der die zerbrochene geistlich-politische Einheit wiederhergestellt ist. Im Spiegel der organizistisch-kosmologischen Metaphern postliberaler Rhetorik erscheinen die dem politischen Liberalismus konstitutiven Grenzziehungen zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen Politik und Religion, zwischen Individuum und Gemeinschaft als künstliche Monstrositäten – und der diesen Grenzziehungen korrespondiere Ethos eines ironischen Bewusstseins der Selbst-Differenz als Laster der Frivolität, der Scheinheiligkeit und ultimativ des Nihilismus.
Auch die „Konservative Revolution“, die im frühen 20. Jahrhundert Gestalt annimmt, hat ihre Energie aus Wut und Ekel über den vermeintlichen Mangel an Ernsthaftigkeit, über Doppelzüngigkeit und Künstlichkeit der modernen Gesellschaft gezogen. Sie ist insofern genuin modern, als sie bei dem Wissen ansetzt, dass die Wiederherstellung der geistlich-politischen Einheit der Vor-Moderne nicht möglich ist. Für den Postliberalismus gilt dasselbe – und wie die „Konservative Revolution“ kanalisiert auch er diese Diagnose in revolutionärem Furor. Die Welt soll in Asche gelegt werden, um aus dieser Asche dann, unter dem Hochdruck der Umsturzbewegung, ein neues Kollektivsubjekt zu pressen: eines, das von solcher Reinheit ist, dass nur eine Grenze es konstituiert – die Unterscheidung von Eigenem und Fremden, Freund und Feind.
Alte Politische Theologie mit neuen Feinden
Die Frage nach dem gerechtesten Herrschaftsmodell verliert damit an Relevanz und Identifikationskraft gegenüber der Frage nach dem Kollektivsubjekt der Erneuerungsbewegung. Die „Konservative Revolution“ hat dieses im ethnischen Begriff des Volkes oder in der Nation gefunden; auch der Postliberalismus bezieht sich auf die Nation – mal im Rückgriff auf die lebensphilosophisch-vitalistischen Bezugspunkte der „Konservativen Revolution“, mal unter Bezug auf heilsgeschichtliche Narrative. Auch die dem restaurativen Konservatismus zentrale katholische Reichsidee begegnet insofern bei den Postliberalen wieder, allerdings in konfessionell neuem Gewand. Denn wohl sind zentrale intellektuelle und politische Figuren des Postliberalismus Katholiken (Patrick Deneen, Adrian Vermeule, Ed Feser, Gladden Pappin und J.D. Vance etwa); seine theologischen Stichpunkte entstammen aber dem (US-amerikanischen) Evangelikalismus, der sich prophetisch-charismatisch gegen den institutionell eingehegten Katholizismus wendet und damit anfällig ist für manichäisches Denken und eine zukunftsorientierte Eschatologie.
Der US-amerikanische Konservatismus hat den (historisch rassistisch imprägnierten) christlich-nationalistischen Evangelikalismus immer wieder in Näherungsbewegungen umkreist. Der Postliberalismus findet darin Legitimationsquellen und Bildsprache für seinen revolutionären Geschmack: Im Rückgriff auf die manichäische Logik repräsentiert er den politischen Streit als Endkampf von Gut und Böse in Gestalt konkurrierender Theologien. Der Name der bekämpften Häresie ist mal „Liberalismus“, mal „Sozialismus“, oft „Wokeismus“. „Woke“ füllt die Lücke eines Feindesbildes, den das Ende des Kalten Krieges durch den Untergang der Sowjetunion einerseits und den ideologischen Sieg des liberalen Westens andererseits gerissen hat: Der Sozialismus hat damit seine Bedrohungskraft erheblich verloren; der Liberalismus wiederum an Identifikationskraft gewonnen. Der Konservatismus hat auf den positiven Leumund des Liberalismus früh reagiert, indem er ihn zusehends für die schleichende Wertentwertung durch seinen vermeintlichen Atheismus und Relativismus kritisiert hat, statt ihm Werteumkehr vorzuwerfen, wie es eine häretische Theologie kennzeichnen würde. So ist der Liberalismus zu einem zahnlosen Feind geworden. Der Postliberalismus hat darauf reagiert und mit dem „Wokeismus“ kurzerhand einen neuen Gegenspieler erfunden, dem er auf dem Spielfeld der Theologie in voller Rüstung entgegentreten kann. Wobei der neue Gegenspieler immer wieder auch als Wiedergänger erscheint: „Woke“ und „jüdisch“ sind in der postliberalen Rhetorik bisweilen fast synonym; alte Motive des christlichen und modernen Antisemitismus in der Folge ein Teilstück postliberaler Mobilisierungsstrategien. Wenige Stunden nach der Ermordung Charlie Kirks Mitte September stand in postliberalen Kreisen fest, der Täter sei „woke“ gewesen; wenige Tage dauerte es, bis die Verschwörungstheorie von einer vermeintlichen israelischen Geheimoperation populär gemacht wurde – im expliziten Rückgriff auf das antisemitische Ur-Motiv des jüdischen Gottesmords.
Überhaupt ist der Postliberalismus auch eine Geschichte der Politischen Theologie, genauer: eine Fortsetzung der säkularisierten und – wie Johann Baptist Metz es nannte – alten Politischen Theologie, die Politik im Sinne der Dezision zur Glaubenssache machen will und die (im anti-pluralen, anti-parlamentarischen Sentiment) dem christlichen Monotheismus eine Figur absoluter Autorität für die Politik abzuringen versucht. Ihr zentraler Proponent ist eine Schlüsselfigur des akademischen Postliberalismus: Von Adrian Vermeule bis Auron McIntyre ist Carl Schmitt Lieblingsdenker und explizierter oder impliziter Stichwortgeber. Er dient zugleich als Brückenfigur: Schmitts charakteristische Synthese eines voluntaristisch-vitalistischen Gestus mit theologischem Vokabular macht ihn zum idealen Übersetzer zwischen dem christlichen Konservatismus einerseits und dem post-religiösen, Disruptionsaffinen (Tech)-Libertarianismus andererseits: Wunder und Disruption, Prophet und Genie werden zu Synonymen in einem Übersetzungsspiel, das die moralische Ablehnung der Gegenwart in der Agenda einer Gegenrevolution kanalisiert, die ihre Legitimationsquelle in einer überhistorischen Wahrheit hat.
„Postliberale“ Wissensräume
So ist der „Postliberalismus“ also ein Wiedergänger anti-liberalen Denkens. Diesen Nachweis mangelnder Originalität zu bringen, heißt vor allem, die doppelte postliberale Behauptung zurückweisen, der politische Liberalismus habe sich zu Tode gesiegt und der Postliberalismus sei die neue Antwort auf neue Herausforderungen. Politisch ist mit dieser Zurückweisung freilich noch kein Land gewonnen. Wer den Anti-Liberalismus in seinem Gestaltungsanspruch zurückweisen will, muss sich der Frage stellen, ob die zyklische Wiederkehr anti-liberalen Denkens und anti-liberaler Bewegungen in der liberalen Moderne selbst angelegt ist: in ihren unbearbeiteten, fortbestehenden Widersprüchen. Das gilt umso mehr, als die „postliberale“ Ideologiearbeit vor allem dort Erfolge feiert, wo sie ein Grundversprechen des politischen Liberalismus für sich reklamiert: das Versprechen eines gelingenden, freien Lebens. So hat ein wesentlicher Teil postliberaler Wissensproduktion das Format vermeintlich unpolitischer Lebensphilosophie und Lebensberatung, die fragt: Wie setze ich mir Lebensziele? Wie überwinde ich Versuchungen, die mich von diesen Zielen abbringen, die ich mir gesetzt habe? Wie gründe ich eine Familie? – und die dann in den Antworten von der Autorität der Tradition, von der Notwendigkeit der Autorität in Familie und Politik überhaupt, und erst in der Ableitung von der Notwendigkeit einer neuen politischen Ordnung spricht. Diese postliberale Wissensarbeit ist populär; sie erfüllt ein Bedürfnis der Orientierung, Sinnstiftung; der Überwindung von Entfremdungserfahrungen. Ihre Sprachrohe von Jordan B. Peterson bis zu Charlie Kirk nutzen digitale Formate wie Podcasts und Soziale Plattformen geschickt, um ein Millionenpublikum insbesondere junger Menschen zu erreichen.
Überhaupt ist das Medium „postliberaler“ Wissensproduktion und -reproduktion wesentlich der transnationale digitale Raum: Die „postliberalen“ Vordenker der ersten Stunde organisierten sich in Blogs wie „Postliberal Order“, „The Josias“ oder „First Things“. Inzwischen dienen Plattformen wie „X“ der Theoriearbeit und ihrer Verbreitung. In dieser digitalen Sphäre wird nivelliert, was es in den unterschiedlichen Gesellschaften der transatlantischen Welt je an regionalen Traditionsbeständen gibt, die den postliberalen Manichäismus und Revolutionsfuror relativieren könnten.
Es könnte eine Antwort des politischen Liberalismus auf den „postliberalen“ Gegner sein, auf diese Traditionsbestände produktiv zurückzugehen: in ihnen nach Praktiken und nach Geschichten der Freiheit und Befreiung zu suchen, die die postliberale Aneignung von „Traditionalität“ irritieren und Orientierungskraft für das besitzen, was den politischen Liberalismus als Projekt so anspruchs- wie verheißungsvoll macht – die Aufforderung, sich zur menschlichen Fähigkeit des Selbstentwurfs verantwortlich zu verhalten. Voraussetzung, diese Geschichte zu finden, ist freilich die Auseinandersetzung mit den Selbstwidersprüchen der liberalen Moderne, von denen sich der Anti-Liberalismus im Vorwurf der Scheinheiligkeit nährt: Die Grenze von freiheitsstiftender Doppelbödigkeit und freiheitszersetzender Scheinheiligkeit zu benennen und praktisch zu bearbeiten ist die Aufgabe der Liberalen in postliberalen Zeiten. •
Dieser Text ist Teil der Reihe „Die Kartierung des politischen Raums“
Rechts, links, konservativ, liberal, progressiv, reaktionär – sie sind als Bezeichnungen politischer Positionen etabliert und doch vielfach ambig. Wen meint man schließlich, wenn man von „den Rechten“ spricht? Was sind die Wurzeln des Konservatismus? Und woran bemisst sich eine linke Haltung? Unsere Reihe nimmt die verschiedenen Positionsbezeichnungen in den Blick – mit Meinungsstücken und Analysen, aus den unterschiedlichsten Perspektiven heraus. Ein Versuch, in der komplexen Begriffslandschaft des Politischen neue Orientierung zu schaffen.
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