Demokratische Krieger
Die aktuelle Wehrpflichtdebatte muss einer Gesellschaftskritik unterzogen werden, die das primäre Staatsinteresse als rücksichtlosen Selbsterhalt enttarnt, meint Chantalle El Helou. Zu diesem Zweck fordere der demokratische Staat die bedingungslose Zustimmung des Bürgers ein, bis hin zum Verzicht auf die eigene Freiheit und Selbstbestimmung.
Um sich der russischen Aggression zu erwehren, soll Deutschland bis 2029 kriegstüchtig werden. Zwar wird der Staat bei der Werbung um Soldaten wohl ungemein von seinem neoliberalen Abrissprojekt der letzten Jahre profitieren. Gleichwohl kann er nicht allein darauf setzen, dass die soziale Prekarisierung junge Menschen massenhaft zur Bundeswehr treibt. So kann es natürlich nicht angehen, dass sich „eine der erfolgreichsten Demokratien der Welt“ ihre Wehrkraft nur durch die Verelendung seiner Bürger erhält. Ein bisschen Überzeugung muss schon sein.
Wird Verteidigungsfähigkeit gewünscht, muss zwangsläufig auf die Identifikation eines Gros der Bevölkerung mit staatlicher Herrschaft, auf die Unterwerfungslust gesetzt werden, die es benötigt, um als Individuum armeefähig zu sein. Der Staat geht als Garant für Freiheit und Gleichheit bei den Menschen um Gehorsam buhlen, die durch den Einsatz für den Staat sterben und damit gerade nicht in den Genuss von Freiheit und Gleichheit kommen. Das staatliche Werben um Zustimmung ist notwendig antiaufklärerisch: Gelänge die Aufklärung, würden sich die Menschen nicht mit staatlicher Herrschaft identifizieren, nicht mehr zum Opfer ihres Lebens für den Staat bereit sein – man hätte einen wehrlosen Staat.
Das menschliche Subjekt und dessen Selbstzweck bilden einen nicht zu ziehenden Stachel im Fleisch des Staatszwecks. Dass Regierungsbetraute, Sozialromantiker und Grundgesetzpatrioten diesen Konflikt leugnen, ignorieren oder durch Ideologie zu harmonisieren versuchen, verwundert nicht. Aufgabe einer Gesellschaftskritik wäre dem entgegen nicht, dem Staat im Rekurs auf kritische Gesellschaftstheorie auf möglichst unantastbare Weise zur Seite zu springen und ein Projekt zu legitimieren, das der Staat notfalls auch ohne die Zustimmung seiner Bürger durchzusetzen weiß. Eine Kritik, deren Ausgangspunkt die Feindschaft gegen den Tod ist, muss auch der Herrschaft des bürgerlichen Staates unversöhnlich gegenüberstehen und die Nicht-Identität des Subjekts mit (staatlicher) Herrschaft anstreben. Das heißt, die Ideologie des Staates bloßzustellen und sich auf die Aufrufe zur Identifikation nicht einzulassen.
„Was wäre denn die Alternative?“ ist die Frage, deren Beantwortung nicht nur nicht die Aufgabe der Kritik ist, sondern die je schon vom Menschen verlangt, zu denken, als wäre er selbst der Staat, ihn somit in die Identifikation mit staatlicher Herrschaft zu locken und ein Einverständnis mit den vom Staat je schon als alternativlos präsentierten Zwecken und Mitteln zu fordern.
Kitten, was gespalten ist
„Sind wir noch ein Volk?“ ist die Frage, die sich voller Sorge nicht nur bei der ARD gestellt wird und Leid und Not nur als Probleme erkennen kann, weil sie Spaltungen dessen offenbaren, was eigentlich zusammengehören soll, aber im Kapitalverhältnis notwendig auseinanderklafft. Überlegen die Bürger noch, was sie verbindet, außer, dass sie zueinander als Repräsentanten ihrer Waren in Beziehung treten, offenbart sich der Staat als das fehlende Teil. Der ist bereits dabei, die große Versöhnung durch Wehrdienst und andere „Freiheitsdienste“ zwangsweise zu organisieren.
Undemokratisch ist das nicht, wie die Gegner dieser Einrichtungen vielleicht meinen, sondern der tiefste Ausdruck demokratischer Herrschaft. Im Wehrdienst wird nur fortgesetzt, wodurch sich die Demokratie ohnehin auszeichnet. In der Demokratie stimmt der engagierte Staatsbürger in der Wahl bereits zu, dass andere über seine Lebensumstände entscheiden. Egal wie gespalten die Bürger sind, in der demokratischen Wahl werden sie darauf vereinigt, zumindest der Herrschaft des Staates zuzustimmen, indem sie ihre widerstreitenden Interessen gleichermaßen an den Staat delegieren und damit ihr Wünschen und Denken in den Staatsapparat integrieren.
Indem der Bürger die demokratische Wahl begeht, bestätigt er die Zuständigkeit des Staates für den verwalteten Bürger und stimmt damit auch der Staatsräson zu, nämlich dass der Staat seine Existenz wenn nötig gegen die Existenz und Freiheitsrechte seiner Bürger durchsetzt. Das erste Schutzobjekt des Staates ist der Staat selbst; das ist nicht moralische Verfehlung, sondern die Bedingung, dass er Recht und Gesetz auch für seine Bürger umsetzen kann. Die individuelle Freiheit des Menschen wird durch den Staat gegen den illegitimen Gebrauch dieser Freiheit durchgesetzt. Ein solch illegitimer Gebrauch wäre, sich dem Zugriff des Staates zu entziehen. Kriegsdienst zu verweigern, ist für den Staat inakzeptabel, da es eine Verweigerung der Zustimmung in seine Herrschaft überhaupt bedeutet. Wenn der Militärhistoriker Sönke Neitzel nach einem „demokratischen Krieger“ ruft, ist das also nicht der zynische Versuch, die Handlungsunfreiheit eines Soldaten zu verschleiern. Es ist nur der konsequente Ausdruck jener Unterordnung unter den Erfolg der Nation, die der Staatsbürger in der demokratischen Wahl einübt und nun in Uniform fortführt.
Einfach mal dankbar sein
„Ich bin diesem Land doch unendlich dankbar, dass ich so leben kann“ drückt die völlig affirmierte Verwiesenheit des Menschen an den Staat treffend aus: In Sachen Freiheit und Menschenrechten muss der Bürger auf die Güte des Staates hoffen. Der Staat gönnt und genehmigt Freiheit und körperliche Unversehrtheit nur insoweit, als es ihm nicht schadet. Die Schlussfolgerung: Eben, weil der Staat kein tyrannischer ist, schulde man ihm die Gefolgschaft. Weil es (noch) nicht der Staat ist, der einen zwingt, soll man sich in vorauseilendem Gehorsam selbst an die Front zwingen. Der Bürger soll seine Todesangst überwinden, um den als liberal verteidigten Staat durch seine Verweigerungshaltung nicht so weit zu „provozieren“, dass dieser schließlich doch noch in einen tyrannischen umschlagen muss. Die Güte des Staates erarbeitet sich der Bürger durch Gehorsam. Dass der Staat nicht zwingt, ist der Verantwortung der Staatsbürger überlassen: Gehorchen sie, kann der Staat liberal bleiben. Hier ist angelegt: Gehorchen sie nicht, wird der Zwang durch den Staat als notwendige Reaktion auf die Provokation des Ungehorsams betrachtet.
Der grundlegendste Verzicht in der liberalen Demokratie ist der auf die Selbstbestimmtheit der eigenen Lebensumstände. Wenn es heißt, dass der Gürtel enger geschnallt werden muss, so bezieht sich das nie nur auf den Magen, sondern soll generell gegen jede Erwartung vorbeugen, die Menschen an das eigene Leben richten könnten. War dieser Ausspruch bislang meist auf das Ökonomische bezogen, offenbart sich, dass die bürgerliche Übung im Verzichtsdenken auch das Einverständnis in den Verzicht auf das eigene Leben nur konsequent fortführt.
Diese Zustimmung muss organisiert werden, bspw. durch Jugendoffiziere und Influencer wie David Matei, die von der Bundeswehr im Einvernehmen mit den Kultusministerien in den Klassenzimmern versichern, dass in Deutschland Gemeinnutz und Eigennutz zusammenfallen. Soll das rein instrumentelle Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern übertüncht werden, lässt das Menschelnde nicht lange auf sich warten. Möchte man sich endlich wieder schamlos um die kulturelle Zerstörung allen Deutschseins sorgen dürfen, kommt man vielleicht auch zu dieser Erkenntnis: „Wir sind es wert.“ Konkret heißt das: Sozialstaat, Krankenversicherung, ein Mosaik aus erhaltenswerten Kleinigkeiten, für Matei beispielsweise Strandkörbe und Ottfried Preußler. Mindestens als geringeres Übel soll Deutschland verteidigt werden, also gar nicht für das, was es ist, sondern für das, was es nicht ist. So wie das Plädoyer für Dankbarkeit angesichts des Sozialstaats dessen Abbau, und der Hinweis auf größeres Übel weiteren Verzicht vorbereitet – Deutschland ist nicht perfekt, aber wem es so gut geht, der kann auf ein paar Kleinigkeiten leicht verzichten –, beugt auch der Verweis auf die kleinen Dinge gegen das Hegen größerer Erwartungen vor: Auf mehr als Strandkörbe und Räuber Hotzenplotz hat man im Leben auch nicht zu hoffen.
Aus dem Einsatz des Lebens für den ungewissen Erfolg der Nation leitet sich keineswegs eine Bringschuld des Staates gegenüber dem Bürger ab. Das Leben für ihn riskiert zu haben, berechtigt nicht, Forderungen zu stellen. Vielmehr ist es so, dass der Staatsbürger eben durch das Riskieren seines Lebens bereits zu seinem Recht gekommen ist. Nicht er sei – mit der Waffe im Schützengraben – Mittel des Staates geworden, sondern würde sich umgekehrt den Staat zum Mittel machen. Das Militär sei eigentlich nur die Potenzierung eigener Kampfkraft. In dem Versuch, den Tod hinauszuzögern, deckt sich auf zynische Weise tatsächlich der Selbstzweck mit dem Staatszweck. Der Soldat versucht so lange wie möglich und durch alle Mittel am Leben zu bleiben und stürmt nach vorn. Weil der Staat es ist, der dem Bürger gibt und nimmt und dafür sein Einverständnis erlangt hat, wird der Staatsbürger durch Einsatz seines Lebens tatsächlich vollumfänglich Demokrat. Als Mensch, der sein Leben in die Hand des Staates gibt, dankbar dessen Zugeständnisse empfängt und einsichtig die Versagungen akzeptiert, ist der Tod des Staatsbürgers an der Front sein der Demokratie und Staatlichkeit angemessenes Ende.
Der Mensch bedroht den Verzicht
Demokratie organisiert Zustimmung und wo die Legitimierung von Herrschaft auf Zustimmung setzt, treten Gesinnung, Werte und Pflicht auf den Plan. Während der Staat auf „Gemeinnutz ist Eigennutz“ plädiert, möchte man auf Seiten der bürgerlichen Ideologen durch „Gemeinnutz vor Eigennutz“ den Dienst an der Waffe einsichtig machen. Wessen Leben nicht gemeinschaftlich produktiv verwertet werden kann, dem wird es auch nicht erhalten: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ (Franz Müntefering) ist das im sozialen Bereich gepflegte Programm, das sich nun in der Werbung für den Wehrdienst fortsetzt. Solidarität ist hier das Wort der Stunde. So wie der demokratische Krieger ein Staatsbürger in Uniform ist, ist der Staatsbürger ein Krieger fürs Große und Ganze in Zivil.
Die Fahndung nach Asozialität und Dekadenz ist in Deutschland gut erprobt. Die an Hartz IV und Bürgergeld ausdauernd getestete Verunglimpfung des leistungslosen Einkommens wird sich konsequent in gleicher Weise am Gegenstand des Wehrdienstes und vor allem an jenen fortführen, die diesen verneinen. Immer dort, wo Wohlstandsverwahrlosung zum Vorwurf gegen leistungslosen Genuss der Freiheit erhoben wird, ist der Arbeitsfetisch total – jene Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse, in der menschliches Leben nicht als Selbstzweck, sondern nur als Mittel begriffen wird. In der kleinlichen Bewertung des Lebens in seiner Fähigkeit, dem Gemeinwesen nützlich zu werden, wird die Begeisterung für den Wehrdienst vorbereitet. Hier geht der Abbau des Sozialstaates mit der Widereinführung der Wehrpflicht einher und widerspricht dieser nicht. Der populäre Wehrdienstgegner Ole Nymoen irrt also, wenn er meint, „dass es komisch ist, dass dieselben Leute, die permanent gegen Flüchtlinge oder Bürgergeldempfänger und die Ärmsten der Gesellschaft hetzen, diejenigen sind, die im Kriegszustand vom Volk Geschlossenheit und Solidarität einfordern.“ Die wissen einfach, wem die Solidaritätspflicht gilt: Dem Staate, nicht einzelnen Individuen. Ob Staatsbürger mit oder ohne Uniform; dem Staatsvolke ist zur Verfügung zu stehen. Solidarisch ist, wer kapitalproduktiv und gemeinschaftsnützlich verwertbar ist. Ehrbare Armut fordert nichts; auf Solidarität beharrende Armut gilt als Schmarotzertum.
Dass man nur haben darf, worum man gekämpft hat, wird rückwirkend noch auf die Geburt angewendet und wer aufgrund seines Alters bisher nicht in den Genuss kapitalproduktiven Arbeitens kam, erhält nun in Form des Wehrdienstes die Gelegenheit, durch Selbstaufopferung und Selbstverwertung seinen Teil an der Nationalfolklore zu tun. Das Leben gilt nicht als zufälliges Geschenk der Natur, sondern als bedingtes Zugeständnis des Staates, dem würdig zu sein man jeden Tag aufs Neue unter Beweis stellen muss. In seiner Schuld steht man lebenslang: „Jeder und jede hat doch etwas für unsere Gesellschaft zu bieten“ weiß auch Katharina Schulze, Fraktionsvorsitzende von BÜNDNIS 90/Die Grünen im Bayerischen Landtag und meint damit: Wer kann, der muss auch. Da lobt man sich staatssolidarische Rentner wie den vom Spiegel zitierten Hurrelmann, der für das „Gemeinschaftsprojekt“ des sozialen Pflichtjahres werben geht und empört feststellt: Rentner„hätten viel Freizeit, die sie sinnvoll nutzen könnten“, seien aber mit der Rente „plötzlich nur noch Privat- und Urlaubsmenschen.“ Aus diesen Zeilen spricht eine Gesinnung, die alles Leben, das nicht „nützlich“ ist, als überflüssig begreift und nicht einmal die wenige Zeit nach Jahren kapitalproduktiver Tätigkeit genießen kann. Den Rentnern wird das bisschen Urlaub streitig gemacht – so wie den Bürgergeldempfängern das bisschen Existenzminimum.
So muss auch klar sein, dass wer „Kriegstüchtigkeit“ (Boris Pistorius) will, den Nachschub an Menschenmaterial nicht dem Zufall überlassen kann. Ein solidarischer Staatsvolksgenosse nimmt die Organisation der Bevölkerungspolitik verantwortungsbewusst selbst in die Hand. Uneins sind die sich mit den Staatszwecken völlig identifizierenden Feministinnen Mirna Funk und Nele Pollatscheck daher nur hinsichtlich der Frage, was dem „Gemeinschaftsprojekt“ dienlicher ist: Sollen Frauen nun wie die Männer an die Front ziehen oder doch besser an der Heimatfront eine ausreichend große Zahl an Kindern gebären?
Es genügt nicht, dass diese Kinder nicht aus persönlichen Gründen oder aus Zufall, sondern je schon als Mittel des Staatszwecks gezeugt wurden. So richtig nützlich ist dieses Menschenmaterial nur, wenn es selbst glaubt, ewig in der Bringschuld des „Gemeinschaftsprojekts“ Staat zu stehen. Weil man nicht früh genug anfangen kann, dafür zu werben, haben sich der KiKa und dessen Nachrichtenformat Logo darauf geeinigt, „[d]ass jeder in diesem Land etwas zurückgeben sollte, in militärischer oder nicht militärischer Form“, um damit ihre jungen Rezipienten auf Linie der Nationalfolklore, der dem staatlichen Zwang vorauseilenden Selbstverwertung, zu bringen. Zuletzt heilt aber Zwang alle gesellschaftlichen Wunden und der Reservistenverband verkündet, dass der Wehrdienst sogar leisten kann, worin die BRD bisher versagte: gelungene Integration. „Die Verfassung eröffnet die Möglichkeit, auch Männer ohne deutsche Staatsbürgerschaft zum Wehr- oder Ersatzdienst zu verpflichten. […] Die Wehrpflicht würde so in gewisser Weise als integrationsbeschleunigendes und verbindendes Element dienen.“
Respekt, aber „artgerecht“
Die angestrebte Zwangsversöhnung zwischen Arm und Reich, Jung und Alt, Inländer und Ausländer, integriert allerdings alle Lebensbereiche in das Diktat der Nützlichkeit und zeigt nur eine deutsche Kontinuität auf: dass man sich in Gerechtigkeitsfragen bestens auskennt. Ob der Punk eines Campino heute Rebellion gegen Gratismentalität bedeutet, die Gesellschaftskritik eines Sascha Lobo wie die eines Felix Lobrecht die Bringschuldfrage stellt – das verbindende Moment zwischen Expunkern, Kulturschaffenden, linken Podcastern, Feuilletonisten, Militärhistorikern und Hochschullehrern ist, dass sie alle wissen, was ungerecht ist: „Diese Mentalität, alles zu nehmen, was mein Staat mir bietet, zu profitieren, aber nicht bereit sein, etwas zu geben: Mit einem solchen hedonistischen Individualismus kann ein Gemeinwesen nicht funktionieren.“ (Neitzel) So beeilt man sich von allen Seiten, dem Staat ideologisch zur Seite zu springen, um die Bürger mit Lob und Tadel auf den Weg der richtigen, heißt kriegstüchtigen Mentalität zu bringen.
Im deutschen Feuilleton, so etwa in der Zeit, beruhigt man sich noch damit, dass die eigenen „Goldjungen […] wohl eher Drohnen aus dem Hintergrund steuern“, weil das eigene „Milieu […] keine Kämpfer heran[ziehe], sondern Denker. Verwalter. Lenker“ und hofft, das Sterben Anderen, nämlich den von den Goldjungen Gelenkten zu überlassen. Trösten sich diese Leute noch damit, „dass das Schreckliche und das Schöne oft nah beieinander liegen, ja zusammengehören“, um somit vereint im Sterben der eigenen Kinder aus der absoluten Negativität – dem Tod – noch positiven Gewinn für die Gesinnung des „Gemeinschaftsprojekts“ zu schlagen, versuchen andere gar nicht erst die Quadratur des Kreises – Kampf auf Leben und Tod bei sanftem Gemüt – oder das Militär zu einem mit der Aufklärung vereinbaren Projekt umzulügen.
So weiß der medial sehr präsente Sönke Neitzel, dass Krieg nicht mit aufgeklärten Menschen zu machen ist: „Jedes Volk braucht Mythen.“ Und nicht nur das Volk, sondern auch jeder Soldat: „Man braucht Kulturen, Riten, Bräuche“ und eine „artgerechte Kultur“, weil „die Aufgabe von Soldaten […] in letzter Konsequenz: kämpfen, töten, sterben“ ist. Was Neitzel hier ausdrückt, ist, dass den Umständen des potenziellen Tötens und Getötetwerdens nicht nüchtern beizukommen ist. Es braucht Ideologie – herrschaftslegitimierende Ideen und Theorien –, die Motivation kann nur affekthaft generiert werden. Da wundert es nicht, dass Neitzel in der Produktion effektiver „Tribal Cultures“, motivierender Identität und Soldatenkultur ein Vorbild gerade in der Wehrmacht findet. Nicht nur gibt es keinen leidenschaftslosen Kampf auf Leben und Tod, man müsste vor einem Menschen auch erschrecken, der nicht mal mehr kämpft, um am Leben zu bleiben, sondern seinen Zweck nur noch im Mittel-Sein für das „Gemeinschaftsprojekt“ begreift.
An einem wird es in Zeiten des Verzichtsfetisch immerhin nicht mangeln: An Respekt und Applaus. Das hat die bürgerliche Gesellschaft in rauen Mengen gerade dann zu bieten, wenn es darauf ankommt, Zugeständnisse materieller Art zu vermeiden. Dieses Respekts können sich die Systemrelevanten – ob Pflegepersonal oder Soldaten – in regelmäßigen Abständen in Talkshows, dem Feuilleton oder auf den Balkonen ihrer Staatsvolksgenossen versichern. Während die Sozialromantiker nichts anderes als respektvolle Sterbebegleitung mit philosophischer Untermalung anzubieten haben, muss der Kritiker staatlicher Maßnahmen respektlos gegenüber der mühsam erarbeiteten Identifizierung des Bürgers mit der Herrschaft bleiben. Ansonsten war die ganze Gesellschaftskritik nichts anderes als kreative Selbsttherapie und netter Zeitvertreib in Friedenszeiten, und hat für alles andere nichts zu bedeuten. •
Weitere Artikel
Donatella Di Cesare: „Wir müssen Bürgerschaft als Fremdheit denken“
Die Europäische Union plant eine Asylreform, die für Donatella Di Cesare nicht nur ein Verrat an der europäischen Idee ist, sondern auch eine Fortführung der Blut-und-Boden-Ideologie. Die Philosophin fordert statt einer Politik nationalstaatlicher Souveränität ein neues Denken der Bürgerschaft. Über die Möglichkeiten einer solchen Veränderung sprachen wir mit ihr am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.

Élisabeth Badinter: "Wir müssen dem Fanatismus die Stirn bieten"
Im Frühling dieses Jahres, nach den Anschlägen von Paris im November, aber vor dem Attentat am Französischen Nationalfeiertag in Nizza, sprach das Philosophie Magazin mit der Philosophin Élisabeth Badinter über die Bedeutung, die fundamentalistischer Terror für laizistische und demokratische Staaten hat und wie sie damit umgehen können und sollten. Badinter ist Feministin und bedingungslose Anwältin einer strikten Trennung von Kirche und Staat. In der Konfrontation mit der Rückkehr des Fanatismus appelliert sie mit Nachdruck an die Kraft der Vernunft.

Philosophische Flaneure
In Zeiten der Pandemie sind Spaziergänge zum neuen Volkssport avanciert: Die Parks und Bürgersteige sind voll. Philosophen ließen sich indes schon immer gehend inspirieren. Ob in der Stadt, auf dem Land oder in den Bergen: Das Flanieren war für viele nicht nur wohltuender Zeitvertreib, sondern unerlässlich fürs eigene Nachdenken. Grund genug für eine Top 5 philosophischer Spitzenspaziergänger.

Èlisabeth Badinter: "Die Linke hat ihre Seele verloren"
Élisabeth Badinter ist Feministin und bedingungslose Anwältin einer strikten Trennung von Kirche und Staat. Nach den jüngsten Attentaten in Paris und der Rückkehr des Fanatismus appelliert sie mit Nachdruck an die Kraft der Vernunft.
Grundeinkommen einführen?
Das bedingungslose Grundeinkommen wird weltweit diskutiert. Sollte es Wirklichkeit werden, würde der Staat jedem Bürger einen existenzsichernden Betrag zahlen, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Eine sinnvolle Investition?
Nietzsche und die Selbstbestimmung
Nietzsche gilt vielen als amoralischer Denker, der einen radikalen Elitismus auf Kosten der Mehrheit predigte. Doch es finden sich in seinen Schriften auch ganz andere Ansätze, die Selbstbestimmung der Menschen zu denken. Sogar für ein neues Verständnis der Demokratie lassen sich Nietzsches Überlegungen fruchtbar machen.

„Wir haben die Pflicht, Sinn zu stiften“
Reinhold Messner ist einer der letzten großen Abenteurer der Gegenwart. Mit seiner Ehefrau Diane hat er ein Buch über die sinngebende Funktion des Verzichts geschrieben. Ein Gespräch über gelingendes Leben und die Frage, weshalb die menschliche Natur ohne Wildnis undenkbar ist.

Das Ende der Stellvertretung und die direkte Zukunft der Demokratie
Die repräsentative Demokratie lässt das Projekt der Aufklärung unvollendet. Statt selbst über unsere undelegierbaren Angelegenheiten zu entscheiden, setzen andere für uns Zwecke. Ein Plädoyer für den Ausbruch aus der institutionalisierten Unmündigkeit und mehr direkte Demokratie von Andreas Urs Sommer.
