Die Erfindung von Leibniz
Wie kann Denken filmisch inszeniert werden? Und ist Metaphysik ein Thema für das Kino? Drehbuchautor Gert Heidenreich über die Schwierigkeit, die schillernde Figur Leibniz greifbar zu machen.
Als Edgar Reitz mir im Jahr 2016 zum ersten Mal von seinem langgehegten Wunsch erzählte, einen Film über das letzte Universalgenie Europas, den Mathematiker und Philosophen und Erfinder Gottfried Wilhelm Leibniz zu machen, war sofort klar: Es ging ihm nicht um einen Film über Leibniz, kein Biopic, kein Dokudrama, kein philosophisches Colleg mit verteilten Rollen; es ging ihm um die Hauptfigur eines Spielfilms. Leibniz sollte erfunden werden; soweit wir wussten, zum ersten Mal in der Geschichte des Films. Nun ist die Verwandlung einer historisch vielfach belegten Figur in einen fiktionalen Charakter ohnehin ein Abenteuer, das ich in Romanen nie gewagt, in Stücken und Drehbüchern unter der Arbeitshypothese „Begründet lügen“ gelegentlich unternommen habe; aber allein der Klang des Namens Leibniz schien eine erdrückende Verantwortung über ein solches Unterfangen zu legen.
Geboren 1646, zwei Jahre vor dem Ende des Dreißigjährigen Krieges, hat Leibniz als homo universalis ein Werk hinterlassen, dessen Summe den Herausgeber der berühmten „Encyclopedie“, Denis Diderot, zu der milde-ironischen Bemerkung veranlasste: „Wenn man zu sich selbst zurückkehrt, und die Talente, die man empfing, mit denen eines Leibniz vergleicht, ist man versucht, die Bücher von sich zu werfen und in irgendeinem versteckten Winkel der Welt ruhig sterben zu gehen.“ Der Fülle an Leibniz-Schriften steht ein karges Wissen über sein Leben, seinen Alltag, gar seine Vorlieben, Abneigungen, Sehnsüchte und Seelenzustände gegenüber. Und das wenige, das wir kennen, ergibt noch kein Bild seiner Gestalt in seiner Welt und Zeit. „Fast alles das“, schreibt der Leibnizforscher Herbert Breger, „was heute an berühmten Personen interessiert (...), wissen wir über Leibniz nicht. Mehr noch: Leibniz würde unser Interesse an seiner Person vermutlich gar nicht verstehen. Er würde uns vermutlich eher auffordern, seine Philosophie zu lesen und gegebenenfalls zu verbessern, seine Mathematik zu verwenden und gegebenenfalls zu verbessern, seine kirchenpolitischen Überlegungen umzusetzen und so weiter.“
Immerhin aber hat Leibniz uns 1676, als er in Dienst beim Hannoveraner Herzog Johann Friedrich tritt, eine Selbstbeschreibung von sich als Dreißigjährigem hinterlassen: „Er ist hagerer mittelmäßiger Statur, hat ein blasses Gesicht, sehr oft kalte Hände, Füße, die wie die Finger seiner Hände nach Verhältnis der übrigen Theile seines Körpers zu lang und zu dünn sind, und keine Anlage zum Schweiß. Er hat bräunliches Haar auf dem Haupte, am Leibe ist er nur sparsam damit versehen. Er hat schwache Lungen, eine trockene und hitzige Leber und Hände, die mit unzähligen Linien durchkreuzt sind. Er liebt das Süße z.B. den Zucker, womit er auch den Wein zu vermischen pflegt. (...) Sein nächtlicher Schlaf ist ununterbrochen, weil er spät zu Bette geht und das Nachtsitzen dem Arbeiten am frühen Morgen bei weitem vorzieht. Schon seit seinem Knaben-Alter führte er eine sitzende Lebensart und machte sich wenig Bewegung (...). Sein Hang zur Gesellschaft ist schwächer als derjenige, welcher ihn zum einsamen Nachdenken und zur Lecture treibt. Befindet er sich aber in einer Gesellschaft, so weiß er sie ziemlich angenehm zu unterhalten, findet aber seine Rechnung mehr bei scherzhaften und heiteren Gesprächen als bei Spiel oder Zeitvertreiben, welche mit körperlicher Bewegung verbunden sind. Er geräth zwar leicht in Hitze, sein Zorn ist aufbrausend, geht aber schnell vorüber. Man wird ihn nie weder ausschweifend fröhlich, noch traurig sehen. Schmerz und Freude empfindet er nur mäßig. Das Lachen verändert häufiger seine Miene, als es seine inneren Theile erschüttern.“
Wie bei allen Selbstbeschreibungen ist auch hier ein kritischer Blick von Vorteil. Seine stoische Verhaltung von Gefühlen wird nicht von allen seinen Zeitgenossen bestätigt. Und seinen Hang zur Gesellschaft kann man auch daran messen, wie aufwendig und mit Freude er sich nach der neuesten französischen Mode kleidete, viel Sinn hatte für bunte Stickereien und die nachgerade zu seinem Markenzeichen gewordene überlange schwarze Allongeperücke, was bei seinen Gängen durch die Straßen des protestantischen Hannover nicht nur für Bewunderung sorgte. Über seine Wirkung auf Frauen konnte der Bibliothekar Johann Georg von Eckhart, der rund 20 Jahre lang als Sekretär für Leibniz tätig war, mitteilen: „Er war bey dem Frauenzimmer sehr beliebt“ – was auf generelles Vergnügen der Damen, vielleicht an seiner Mode, gewiss an seiner Eloquenz schließen lässt. Mehr aber auch nicht.
Natürlich wussten Edgar Reitz und ich, dass es schwer werden würde, hinter dem Denkmal Leibniz jene menschlichen Wesenszüge sichtbar zu machen, die Voraussetzung für das Entstehen einer fiktionalen Figur sind. Auch dass das ungeheure philosophische, mathematische, juristische Werk und die Tabula voller Erfindungen wenigstens in Grundzügen gekannt und verstanden sein müssen, um eine Ahnung vom Schaffen dieses Geistes zu bekommen. Nun ist Reitz selbst ein Philosoph sui generis, und nach unserer gemeinsamen Arbeit am Drehbuch zum Film „Die andere Heimat“ wusste ich: Die Besprechungen mit ihm würden hier noch mehr als damals in wundervollen Mäandern die praktischen Fragen von Inhalt und Dramaturgie umwandern. So kam es auch. Für fast zehn Jahre. Genug Zeit für ein Leibniz-Studium. Ich schrieb drei unterschiedliche Drehbücher und ihre Variationen; einen ausgreifenden Historienfilm mit vielen nachweislichen und begründbar erfundenen Lebensstationen unseres Helden; eine davon abgeleitete Version mit deutlich geringeren Produktionskosten; und schließlich, als alle Finanzierungspläne scheiterten, das Kammerspiel, um das Edgar Reitz mich schlussendlich gebeten hatte.
Sichtbarkeit des Denkens
Der Produzent Ingo Fliess machte, als wir kaum mehr darauf zu hoffen wagten, die filmische Realisierung möglich, und es zeigte sich, dass die neue Idee schon in den vorangegangenen Fassungen angelegt war: Die hatten damit begonnen, dass Leibniz von einem Hofmaler porträtiert wurde – nach einer Methode, die im Barock nicht selten Anwendung fand: Im vorgefertigten Gemälde mit Figur, Kleidung, Schmuck, Perücke war nur die Person noch ausgespart: ein weißes Oval, ein leeres Gesicht. So ähnlich entstand auch das neue Drehbuch. Vor dem Hintergrund einer umfänglich recherchierbaren Zeit, gleichsam dem Kostüm der Geschichte, musste langsam der Mensch Leibniz, anfänglich ein leerer Seelenfleck, erkennbar werden. Biografien gibt es viele, die reichhaltigsten von Maria Rosa Antognazza (englisch), Eike Christian Hirsch und Michael Kempe; vor allem gibt es die großartigen Bücher und Aufsätze des Philosophen und Leibniz-Spezialisten Hans Poser und das Standardwerk Die Fenster der Monade des Kunsthistorikers Horst Bredekamp. Poser schrieb, Leibniz sei der letzte gewesen, der „eine Einheit von Theologie, Metaphysik und Wissenschaft gestiftet hat. Ob wir diese Einheit heute noch teilen können, das steht auf einem anderen Blatt.“
Ist Metaphysik ein Thema für das heutige Kino? Und ist ein Mensch für uns heute interessant, dessen Lebenszweck die Aufklärung über Ursache, Art und Bestand der Schöpfung ist; der aus logischen Gründen gottgläubig ist und auf der so einfachen wie grundsätzlichen Frage besteht: „Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?“ Edgar Reitz und ich gerieten bei unseren Gesprächen immer wieder an den Punkt, an dem die Frage nach der Sichtbarkeit des Denkens Lösungen verlangte. Die umfänglichen ersten Drehbücher konnten aus einer Fülle von Situationen, in die Leibniz geriet, gleichsam praktische Anwendungen seiner Philosophie behaupten, doch jetzt hatte ich nur eine Situation zur Verfügung, nämlich die Entstehung eines Leibniz-Porträts, das sich die preußische Königin Charlotte für ihr Schloss Lietzenburg bei Berlin erbeten hatte, und zwar von ihrer Mutter, der Kurfürstin Sophie in Hannover.
Welch ein Glück für ihn und für uns, dass es diese beiden so intelligenten wie gebildeten und wissbegierigen Frauen gab: Sophie, genannt Sophie von der Pfalz, die 16 Jahre älter als Leibniz war; und ihre Tochter Sophie Charlotte, 20 Jahre jünger als er. Sie schwärmte für Leibniz, lud ihn, so oft es nur ging, nach Berlin ein, bestellte Mathematik-Bücher aus England, um ihn damit zur Reise nach Lietzenburg, das nach ihrem Tod in Charlottenburg umbenannt werden wird, zu verführen. Er kam, so oft es ihm möglich war. Ihr Gatte Friedrich I. war nicht amüsiert, genehmigte Leibniz dennoch auf Drängen von Charlotte die Errichtung der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften, die es bis heute gibt. So verschaffte die preußische Königin ihrem geliebten Lehrer gleichsam berufliche Gründe, von Hannover nach Berlin zu reisen – zu seiner Schülerin, wie sie sich nannte. Also doch eine Lovestory? Nein. Und ein bisschen ja.•
Der Essay wurde mit freundlicher Genehmigung von Weltkino zur Verfügung gestellt.