Maskulinistischer Vulgär-Stoizismus
Die antike Philosophie der Stoa erfreut sich bei rechten Influencern und neoliberalen Selbstoptimierern zusehends größerer Beliebtheit. Dabei geht es aber mehr um die pseudointellektuelle Weihe einer konsumfertigen Ideologie als um eine ernsthafte Auseinandersetzung mit philosophischen Gedankengebäuden.
Einem Social-Media-Trend zufolge denkt jeder Mann mehrmals die Woche an das Römische Reich. Das will eine Legion von Userinnen herausgefunden haben, die ihre Partner und männlichen Angehörigen diesbezüglich ausgefragt hat. Damit sollte gezeigt werden, dass „wir Männer“ gar nicht so eindimensional sind, wie landläufig angenommen. Nun stellt sich natürlich die Frage, warum ausgerechnet Männer an das Römische Reich denken. Freilich könnte mensch* jetzt argumentieren, dass einfach niemand die Frauen (von den Intergeschlechtlichen und Nichtbinären ganz zu schweigen) gefragt hat. Doch es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass das Römische Reich gegenwärtig männlich konnotiert ist – das bestätigten auch einige zu dem Trend befragte Historiker gegenüber der Washington Post. Wenn wir an Rom denken, denken wir an Legionäre und Gladiatoren – Männer mit Rüstung und Schwert.
Doch nicht nur unter Hobby-Historikern hat das Römische Reich Konjunktur. Auch seine Philosophie erlebt derzeit ein Revival. Doch wer nun gehofft hatte, dass Neuplatonismus, frühchristliche Mystik oder gar pyrrhonische Skepsis endlich ihren wohlverdienten Platz im philosophischen Mainstream einnehmen würden, wird bitter enttäuscht. Diese Ehre gilt allein der Philosophie der Stoa. Diese scheint indes mit umso größerer Macht zurückzukehren. Das beweisen nicht nur die zahlreichen Neuauflagen von Marc Aurel und Seneca, die – für antike Philosophie sonst unüblich – sogar in Bahnhofsbuchläden zu haben sind. Auch gegenwärtige Annäherungen an diese Philosophie, etwa von Ryan Holiday oder Massimo Pigliucci, schaffen es regelmäßig in die Sachbuch-Bestsellerlisten.
Doch auch im Internet erfreut sich diese Philosophie zusehender Beliebtheit: Zahllose Channels auf Plattformen wie Youtube, Instagram, TikTok oder X scheinen sich der Stoa und ihrem Denken zu widmen. Erklärt wird hier, dass damit vor allem auf die sogenannte „male-lonlieness-crisis“ geantwortet werde. Diese Kanäle, die generische Namen tragen wie „StoicWisdom“, „StoicJournal“ oder „StoicPhilosopher“ und von denen manche bis zu 350.000 Follower haben, funktionieren immer nach demselben Prinzip: Vor dem Hintergrund KI-generierter Bilder von griechisch anmutenden Statuen mit Bodybuilder-Körpern in Togas und bärtigen „Philosophen“-Köpfen gibt eine KI-generierte Stimme Tipps, wie man(n) „aus stoischer Sicht“ mit Problemen des Alltags – oft des Dating-Lebens – umgehen sollte. Zuweilen kommen dabei Einzeiler von Marc Aurel, Seneca oder Epiktet zum Einsatz, häufig wird die Grenze zur Misogynie überschritten. Die Algorithmus-Pipeline dieser Channels führt dann auch folgerichtig auf direktem Wege in den rechten Sumpf von Influencern wie Andrew Tate oder Jordan Peterson.
Suggestion von Männlichkeit
Natürlich geht es bei diesen Videos nicht um philosophische Bildung, sondern um Content-Creation, um das Generieren von Klicks. Wie die aufgepumpten, aber dysfunktionalen Muskeln der Statuen im Hintergrund Stärke lediglich projizieren sollen, so soll der Verweis auf die antiken Philosophen den Anschein von Bildung erzeugen. Erzeugt werden soll das Bild eines starken und weisen, „in sich ruhenden“ Mannes, der – anders als die Adressaten dieser Videos – jedem Problem des modernen Lebens nicht bloß gewachsen, sondern überlegen ist.
Das Ziel, das dieses Bild verfolgt, ist klar: Suggeriert wird, dass auch du ein solcher weiser, starker Mann werden kannst, wenn du nur genügend Content konsumierst. Dass man diese Suggestion ausgerechnet durch die endlose Wiederholung der Binsenweisheit zu erzeugen versucht, dass „wahre Stärke von innen kommt“ und man „wahre Freiheit dadurch erlangt, dass man sich vom Urteil anderer frei macht“, ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich, denn es soll ja, wie gesagt, nur der Anschein von Bildung erzeugt werden; echte Anregungen zum Nachdenken, gar komplexe Gedanken, würden nur die einfache Konsumierbarkeit der Clips gefährden.
Nicht zu überhören ist dabei der grundlegend misogyne Ton, den die meisten dieser Videos anschlagen. Stoizismus wird hier konsequent als eine Philosophie präsentiert, die sich an Männer richtet. In diesem Zusammenhang ist es auch interessant, dass die Stoa hier ausschließlich auf ihre Ethik reduziert wird. Ethik noch dazu im engen Sinne eines Sets von Regeln für die individuelle Lebensführung. In dieser Perspektive geben die Videos jungen Männern Ratschläge, wie sie z.B. mit Trennungen oder Zurückweisungen durch Frauen umgehen sollen. Die Tipps reichen hier von Plattitüden wie „lerne das unerwiderte Begehren loszulassen“, über Ratschläge wie „werde erfolgreich, damit sie sieht, was sie verloren hat“ bis zu „zeige niemandem deine Gefühle, wenn du niemandem vertraust, kann dich niemand verraten“.
Überhöhung des Individuums
Auffällig ist auch der extreme Individualismus, den diese Videos propagieren. Andere – insbesondere Frauen – erscheinen hier nur, insofern sie durch „richtiges“ Verhalten zu einer erwünschten Reaktion manipuliert werden können. Sollte tatsächlich einmal eine Empfehlung ausgesprochen werden, eine Beziehung zu einem anderen Menschen einzugehen, bleibt diese stets auf den egoistischen Nutzen fokussiert, etwa wenn empfohlen wird, sich einen „Mentor“ oder „starke Verbündete“ zu suchen. Der Stoizismus wird so als Philosophie präsentiert, die perfekt auf die neoliberale Konjunktur der Selbstverbesserung in Grind- und Gig-Economy zugeschnitten ist.
Nun könnte man das Phänomen des Internet-Stoizismus natürlich schlicht als „Clickbait“ oder blanken Unsinn abzutun, der sich der Stoa lediglich bedient, um philosophische Kredibilität zu simulieren. Während dieser Vorwurf sicherlich richtig ist, wirft er aber zugleich die Frage auf, warum es ausgerechnet die Stoa ist, die hier den philosophischen Vorschuss zahlen muss. Schließlich ließen sich auch Konfuzius, die Vorsokratiker oder Nietzsche auf aphoristische Einzeiler reduzieren, um sie in pseudophilosophischen Content zu verwursten (und zum Teil geschieht das ja auch). Der Grund, warum es ausgerechnet die Stoa ist, die heute ein Revival erlebt, liegt in ihrer – von den Creatorn ebenfalls zum Kalenderspruch zurechtgekürzten – Naturphilosophie begründet.
Anders als Aristoteliker oder die ihnen zeitgenössischen Neo-Platoniker, gehen die Stoiker von einem geschlossenen Weltbild der Einheit von Göttern und Natur aus. Dieses führt zu einer starken Betonung der Kategorie des Schicksals, welche sich unter anderem in einer intensiven Beschäftigung mit Fragen der Mantik – den Techniken der Zukunftsvorhersage – niederschlägt. Was sich in den Originaltexten so in ein kompliziertes System der Emmanationen von Geist und Materie ausbuchstabiert, findet sich in der gegenwärtigen Interpretation zu einer simplen „Es ist, wie es ist“-Ideologie reduziert. So erklärte der Bestsellerautor Ryan Holliday in einem Interview mit der „Daily Show“: „Wir haben keine Kontrolle darüber, was uns im Leben passiert, aber wir haben Kontrolle darüber, wie wir darauf reagieren“.
Vermeintliche Unveränderlichkeit
Während sich dieses Statement in seiner radikalen Einfachheit erstmal nicht von der Hand weisen lässt, wird es doch – insbesondere in Verbindung mit dem an funktionalen Solipsismus grenzenden Individualismus, den viele dieser Kanäle propagieren – zum Aufruf, sich mit einem feindlichen System zu arrangieren und sich lediglich innerhalb desselben den größtmöglichen persönlichen Vorteil zu sichern. Indem das Individuum hier stillschweigend mit dem atomistischen Unternehmer des Selbst gleichgesetzt wird, wie es die neoliberale Ökonomie hervorbringt, wird gleichzeitig alles, was nicht zu diesem Individuum zählt, als Natur und damit als unveränderbar gesetzt.
Diese Naturalisierung wird noch dadurch verstärkt, dass sich eben nicht auf Philosophie aus der kapitalistischen Moderne bezogen wird, sondern auf die Antike. Durch diese Rückbindung entsteht der Schein überhistorischer Gültigkeit. Wie auch im Fall des Römischen Reiches, das man uns heute als ein Zerrbild soldatisch-disziplinierter Männlichkeit präsentiert, wird die Stoa als Zerrbild misogyn-individualistischer Grind-Ökonomen dargestellt. Die zentrale Botschaft der Reduktion des Selbst auf die innere Freiheit, unabhängig vom Urteil anderer und die Reduktion aller Inhalte auf ihre Vermarktbarkeit auf Social Media sind dabei durchaus nicht widersprüchlich, sondern vielmehr zwei Seiten derselben Medaille: Schließlich sind wir dann am empfänglichsten dafür, dass uns etwas verkauft wird, wenn wir gar nicht den Eindruck haben, dass uns etwas verkauft werden soll.
Statt also dieser Simplifizierung auf den Leim zu gehen, kann die Beschäftigung mit der Stoa auch dazu einladen, unsere gegenwärtigen Handlungsspielräume zu hinterfragen: Warum erfahren wir unsere Freiheit gegenwärtig hauptsächlich als ökonomische Freiheit (und damit als Freiheit zur Selbstausbeutung)? Was ist tatsächlich unveränderbare Naturgegebenheit und was kann ich – insbesondere in solidarischer Gemeinschaft mit meinen Mitmenschen – verändern? Und nicht zuletzt lädt die Beschäftigung mit der Stoa auch dazu ein, einmal wirklich einen Schritt aus dem alltäglichen Grind zu tun und sich der Reflexion über das Leben, die Welt und unseren Platz darin hinzugeben. Daraus folgt zwar nicht unbedingt Überlegenheit bei der Bewältigung alltäglicher Probleme, aber ein tieferes Nachdenken kann uns vielleicht zeigen, dass das Leben auch mehr sein kann als Probleme zu lösen.•
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